Kapitel 1: Das Ausdrucksverhalten des Hundes richtig deuten
Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile.
(Aristoteles)
Dieses Zitat ist überaus zutreffend, wenn es darum geht, Hunde situationsgemäß richtig einschätzen zu können. (…) Der Hund reagiert auf jede Interaktion mit der Umwelt und deshalb auch auf die Aktionen beim Tierarzt. Sein Verhalten entspringt seinen Emotionen und Absichten. Um angemessen auf den Hund eingehen zu können, ist es daher notwendig, ihn situationsgemäß richtig einzuschätzen. So muss erkannt werden, wann die Erregung des Hundes übermäßig zunimmt und welche Emotion vorherrschend ist. (…)
Man sollte nicht erwarten, dass die Ausdruckselemente und Signale einer Leuchtreklame gleich jederzeit überdeutlich zu erkennen sind. Man muss schon genauer hinschauen, um gerade die subtilen Feinheiten und damit die wirkliche Bedeutung zu erkennen. Was der Hund mitteilen möchte, wird erst durch den Gesamtausdruck, das Display, ersichtlich, der sich aus allen Signalen in ihren unterschiedlichen Intensitäten und in ihrer Beziehung zueinander ergibt. (…)
Was letztlich der Hund mit seinen einzelnen Ausdruckselementen mitzuteilen versucht, dafür sind der Gesamteindruck und der Kontext entscheidend. Es sollte nicht vorschnell gewertet und der Hund mit seinem Verhalten in eine Schublade geschoben werden.
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Kapitel 2: Von Anfang an gut betreut
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Nicht nur der Hund steht im Fokus: Wer ihm den Besuch beim Tierarzt erleichtern möchte, der muss sich auch um den Besitzer kümmern. Fühlt dieser sich gut betreut, so wirkt sich dies wiederum wohltuend auf den Hund aus.
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Der Mensch führt umso sicherer seinen Hund, wenn für ihn die Zugangswege eindeutig sind; sein Zögern würde sich nachteilig auf die Führbereitschaft seines Hundes auswirken. Auch die Orientierung in der Praxis selbst sollte dem Menschen erleichtert werden. Deutliche Wegweiser und Beschilderung für Empfang, Behandlungsräume, Toiletten, aber auch für den Mülleimer etc. verhindern unnötige Beunruhigung.
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Bei aggressiven oder panischen Hunden empfiehlt es sich je nach Größe und Potential des Hundes, einen separaten Eingang zu nutzen. Ein Parkplatz in seiner unmittelbaren Nähe sollte freigehalten sein beispielsweise durch eine Parkplatzsperre oder eine entsprechende Kennzeichnung, dass er nur nach expliziter Zuweisung zu nutzen ist.
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Kapitel 3: Behandlung des Hundes
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Stress hat einen erheblichen Einfluss auf das Verhalten. So können grundsätzlich Verhaltensweisen auftreten, die der Hund längst abgelegt zu haben schien. Zudem kommen die Verhaltensweisen, für die der Hund aufgrund seiner Rasse (bei einem Mix die beteiligten Rassen) prädestiniert ist, stärker zum Vorschein. Aus diesem Grund empfiehlt sich bei im Rassenstandard angegebenen rassespezifischen Besonderheiten wie "sehr wachsam" (Chow-Chow), "Misstrauen Fremden gegenüber" (Spitz) ein besonderes Augenmerk auf einen sich anbahnenden Konflikt zu legen. Bei einem Hund, bei dem im Rassenstandard die Beschreibung zu finden ist "verteidigt seinen Herrn ohne jegliches Zögern hartnäckig und leidenschaftlich" (Malinois) ist eher eine Abwehrhaltung zu erwarten als bei einem Hund, in dessen Rassebeschreibung zu finden ist: "Ein fröhlicher Hund […]liebenswürdig und aufgeweckt, ohne Anzeichen von Angriffslust oder Ängstlichkeit" (Beagle). Dennoch sind selbstverständlich den individuellen Ausprägungen und Besonderheiten des jeweiligen Hundes zu beachten. Wie sehr sie vom Rassestandard abweichen können, zeigt eindrucksvoll die Fallgeschichte von Beagle Johann im vorangegangenen Kapitel.
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Kapitel 4: Leinenhandling und Führen des Hundes
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Ein ungünstiges Leinenhandling kann den Hund animieren, sich erst recht aufzuregen und aggressiv zu reagieren. Wird die Leine abrupt kurz genommen und sofort wieder Spielraum gegeben, so kann dies den Hund zu einem abwehrenden Sprung nach vorne animieren. Dass die Leine nicht missbraucht werden sollte, um darüber bewusst einen schmerzenden Leinenruck am Halsband auszuführen oder um den Hund sogar damit zu schlagen, sollte selbstverständlich sein. Druck erzeugt Gegendruck: daher ist es nicht ratsam, den Hund an gespannter Leine wie einen Sack hinter sich herzuziehen, er würde sich nur gegen die Leine sperren. Um den Hund auszubalancieren und zum Mitgehen zu animieren, verwende ich gerne sanfte (!) Leinenimpulse (von mir als Paraden bezeichnet in Anlehnung an den Pferdesport). Hier bleibt die Leine angenommen, d.h. es besteht eine angenehme Grundspannung, bei der die Leine nicht durchhängt, aber auch keiner der Beteiligten aus dem Gleichgewicht gezogen wird. Diese Grundspannung ist vielmehr wie ein freundliches "Händchenhalten" zu verstehen und lädt zum Mitkommen ein.
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Kapitel 5: Betreuung des Hundes in Abwesenheit seines Menschen
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Die Behandlung eines Hundes im Beisein anderer Hunde auf Station kann für die zuschauenden Hunde im Stationsalltag eine willkommene Abwechslung sein. Sie können sehen, wie liebevoll der Patient umsorgt wird, wie fürsorglich und souverän mit ihm umgegangen wird. Ist jedoch davon auszugehen, dass der zu behandelnde Hund starke Abwehrreaktionen zeigen und sich aggressiv verhalten wird, dann sollte von diesem „TV-Ereignis“ Abstand genommen werden.
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Dass bei einer Behandlung Schmerzen auftreten können, ist jedoch nicht immer zu vermeiden. In einem solch Fall sollte der Hund unter Ausschluss anderer Hunde behandelt werden – weder sichtbar noch hörbar für diese. Über die Spiegelzellen können sich Hunde in den anderen hineinversetzen, sie können seine Angst und Schmerzen nachempfinden. Das ist für sie nicht nur belastend, sondern vergrößert auch ihre negative Erwartungshaltung vor der Behandlung.
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Kapitel 6: Hintergrundwissen
Das Prinzip von Geben & Nehmen entschärft schwierige Situationen, da potentielle Konflikte erkannt werden und entsprechend deeskalierend reagiert wird.
Unter dem Prinzip von Geben & Nehmen verstehe ich den entscheidenden Unterschied, ob sich jemand annähert und man darauf keinen Einfluss hat, oder ob man selbst die Annäherung vornimmt. Das Erstere wird als Verlust einer Ressource empfunden (Individualabstand zum eigenen Selbst wird von jemand anderem verringert), der zweite Fall bedeutet einen Gewinn (ein anderer gewährt den Zutritt in seinen eigenen Bereich). Dieses Prinzip gilt für alle Ressourcen wie beim Hund beispielsweise sein Auto oder sein Mensch. Nähert sich jemand diesen an, so wertet der Hund dies als Absicht der Vereinnahmung und damit als Bedrohung. Nähert er sich jedoch selbst mit seiner Ressource dem Fremden, so sieht er dies weniger kritisch. Wie sehr der Hund seine Ressourcen sichert und letztlich auch verteidigt, ist individuell unterschiedlich und hängt auch ab von Tagesform und Situation.
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